Abendsonne

Johann Wolfgang Goethe

(Faust: 1790)

 

Betrachtet, wie in Abendsonne-Glut

Die grünumgebenen Hütten schimmern!

Sie rückt und weicht, der Tag ist überlebt,

Dort eilt sie hin und fördert neues Leben.

O ! dass kein Flügel mich vom Boden hebt,

Ihr nach und immer nach zu streben!

Ich säh’ im ew’gen Abendstrahl

Die stille Welt zu meinen Füßen,

Entzündet alle Höhn, beruhigt jedes Tal,

Den Silberbach in goldene Ströme fließen.

Nicht hemmte dann den göttergleichen Lauf

Der wilde Berg mit allen seinen Schluchten;

Schon tut das Meer sich mit erwärmten Buchten

Vor den erstaunten Augen auf.

Doch scheint die Göttin endlich wegzusinken;

Allein der neue Trieb erwacht,

Ich eile fort, ihr ew’ges Licht zu trinken,

Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht,

Den Himmel über mir und unter mir die Wellen.

Ein schöner Traum, indessen sie entweicht!

Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht

Kein körperlicher Flügel sich gesellen.

Doch ist es jedem eingeboren,

Dass sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,

Wenn über uns, im blauen Raum verloren,

Ihr schmetternd Lied die Lerche singt,

Wenn über schroffen Fichtenhöhen

Der Adler ausgebreitet schwebt

Und über Flächen, über Seen

Der Kranich nach der Heimat strebt.

 

 

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